Sep 28, 2011
Tanzschritt der Dogmen
Ich schreibe diesen Text als mein Lesen einer Geschichte die viele andere Menschen zusammen mit mir durchlaufen haben. Dennoch begreife ich, dass ein und dieselbe Geschichte, so klein sie auch sein mag, in ein Farbenprisma von Interpretationen zerfällt, was unbezweifelt mit der nicht zu reduzierbaren Perspektive eines jeden Individuum übereinkommt. Leider kommt diese Vielfältigkeit selten zum Ausdruck. Mit diesem Text will ich schon mal eine Farbe hinzufügen. Ich denke damit einige Diskussionspunkte anzuführen, die für Gefährten im Ausland erkennbar sind.
Mit diesem Text will ich diesen Diskussionen „Daseinsberechtigung“ geben, ohne an der Buchmesse selbst den Rahmen der Perspektive sprengen zu müssen, der vorgestellt wird. Wenn auch die Fragen die ich zur Sprache bringe einerseits eine aktuelle Diskussion unter Anarchisten in Belgien wiedergeben, so sind sie, andererseits, hindurch die gesamte Geschichte des Anarchismus schon immer „ein Problemkind“ gewesen.
Ein Schritt nach vorne…
Es wurde in unserem begrenzten Kontext schon ein gewaltiger Weg zurückgelegt. Während vieler Jahre wurde jede anarchistische Aspiration in Belgien durch ein Lifestyle-Ghetto zu Tode geknüffelt, worin die einzige Linie die bestand, jene einer sich langsam abzeichnenden Laufbahn bei einer NGO war. Und wenn nur wenige sich selbst Anarchisten nannten, so war das weil es nur wenige Anarchisten gab und man eher von einem Aktionsmilieu sprechen konnte, das verschiedensten Sachen als Zugtier dienen konnte. Dieses Milieu sorgte zeitlich für eine gewisse street-credibility von NGOs, empfand selbst aber auch alles andere als Ekel beim Gedanken an einen flinken Schuss Reformismus. Ein sehr streng umschriebener Pazifismus schien manchmal die ungeschriebene Regel zu sein, die dies alles zusammenhielt: die einzige „politische“ Linie die mit relativ viel Zustimmung rechnen konnte. Von Verbreitung von Ideen war – aufgrund des Mangels an Ideen und Diskussion – nicht die geringste Sprache.
Es hat so einiges gebraucht um aus diesem Ghetto auszubrechen und Initiativen zu entwickeln, die unseren anti-autoritären Wünschen näher kamen. Der Durchbruch kam durch aufeinander folgende Diskussionen und Ereignisse, aber auch dank Veröffentlichungen und des entwickeln verschiedener Aktivitäten. Ich habe von diesem Lernprozess genossen und es sind dabei einige Kampferfahrungen gemacht worden, die unbezweifelt ein Nährboden für interessante Diskussionen liefern. Und doch hat sich, meiner Ansicht nach, der eroberte Horizont auch schnell schon wieder eingeengt.
…und einer zurück
Angesichts der Einschränkungen die das aktivistische Milieu uns auferlegte, wurde nach Mitteln gesucht, die den Bruch zustande bringen konnten. Die Entwicklung und Ausarbeitung anarchistischer Ideen, das Erfahren von Aktionen ohne Vermittlung, die Kritik an der abwartenden Haltung, die Kritik an der formellen Organisation, die Verbreitung von Ideen…all dies waren Stück für Stück unentbehrliche Instrumente um zu einem eigenen Projekt zu gelangen. Heute denke ich, dass viele dieser Instrumente erstarrt sind, was sie zu neuen Dogmen oder fixen Ideen macht. Au suivant!
Wo früher Schüchternheit geherrscht hat um Idee zu verbreiten und man so den Taten die daraus hervorgekommen sind, die eigentliche Kraft verwehrt hat, scheint die Verbreitung von Ideen nun erneut einen zentralen Platze einzunehmen. Zurecht wird es als ein Mittel betrachtet den beschränkten Zirkel von Gefährten zu durchbrechen. Aber die Verbreitung von Ideen durch eine gewisse Gruppe von Menschen, erfordert noch immer ein fortwährendes Abtasten, Anpassen und Entwickeln von Ideen. Anders versandet die Verbreitung von Ideen in der Einbahnkommunikation stromlinienförmiger Positionen und ziehen individuelle Klemmtöne den Kürzeren. Oftmals wurde durch die Verbreitung von Ideen die Möglichkeit interner Diskussion und Dynamik zunichte gemacht (keine Zeit mehr für Blätter die die Diskussionen rückkoppeln z.B.).
Das Lifestyle-Ghetto des aktivistischen Milieus liess sich oftmals in Termen von „Autonomie“ umschreiben: der Kampf für ein Jugendzentrum, ein autonomes Zentrum, ein Ort für Aktivitäten…So wurde die Autonomie als losgelöstes Konzept auch zurecht kritisiert, die Erfahrung machend, dass das Erreichen dieser Kampfziele (autonomes Zentrum etc.) oftmals gleichzeitig mit dem Ende des Kampfes tout court einherging. Einzig in Wechselwirkung mit Elementen des Kampfes bleibt die Autonomie lebendig und behält sie einen widerspenstigen Inhalt. Beginnend mit dieser Kritik entwickelte sich jedoch die Neigung, alle Aspekte des Lebens an dem Kriterium des ‘Kampfes’ zu abzuwägen. Die Aktivitäten die nicht in das Kader des Kampfes passten, wurden manchmal somit als individueller Vorzug abgetan, wodurch der ‘Kampf’ auch sofort vom Individuum los gekoppelt und darüber hinaus gehoben wurde. Dadurch wurde meiner Ansicht nach eine wichtige positive Dimension aus der anarchistischen Praxis weg radiert. Die Autonomie komplett auf den Abfallhaufen zu schmeissen (d.w.s. die schnellst mögliche Anwendung unserer Ideen in der Praxis) führt zu einer unnötigen Unterbewertung der Eigenheit und einer grenzenlosen Überbewertung einer abstrakten Freiheit.
Zurecht wurde auch die Passivität und die totale Abwesenheit oder sogar das verdächtig machen eines jeden politischen Projekts kritisiert. Das frei-und-froh wog schwer auf jedem Versuch, eine Dynamik ins Leben zu rufen und Themen mit einer gewissen Bestimmtheit ins Auge zu fassen.Aber auch hier begann die Kritik im Laufe der Zeit an der Aktivität der Kritiker zu schaben: die Betonung wurde immer mehr auf strategische Fragen gelegt und es wurde immer schwieriger einen gewissen Abstand gegenüber den eigenen Aktivitäten zu bewahren. Dadurch wurde der Erstarrung einzelner Methoden und Hypothesen natürlich freie Bahn gegeben.
Der Bruch mit dem ideologischen Pazifismus war möglicherweise der wichtigste. Er illustrierte in der Praxis eine tiefe Verankerung im Legalismus und formte eine enorme Einschränkung für jede anti-autoritäre Aktivität. Sie hat einem Diskurs Platz gemacht, wo Termen wie ‘Befriedung’ aber auch ‘Krieg’ angewendet werden, ohne ein Minimum an Erklärung abzugeben. Dass die autoritäre Gesellschaft befriedigt sein soll, fragt immerhin nach einigen wichtigen Nuancen (sicher wenn man einige Sätze weiter liesst, dass die Gewalt des einen oder anderen Aufstandes nichts ist in Vergleichung mit der täglichen Gewalt der Gesellschaft) und dass Gewalt (nicht zu sprechen von Krieg) per se zu einem aufständischen Prozess beitragen soll, fragt genau so sehr nach Erläuterung, Diskussion etc.
Wir nähern uns den Endnoten dieser Erörterung. Die Kritik am Reformismus war bestimmt eben so fundamental wie die am Pazifismus. Sie sorgte dafür, dass die eindeutige Linie zwischen Verbesserern und Aufständischen sichtbar wurde. Zur gleichen Zeit ist die Kritik am Reformismus zuallererst eine Weigerung der Vermittlung und Bettelei. Sie unterschreibt niet notwendigerweise die revolutionäre Hypothese und ihre schwer beladene Geschichte. Die Frage der Revolution ist, auch in Zeiten die in allen Hinsichten geladener mit Revolution gewesen sind dann die unsere, nie selbstverständlich gewesen. Es hat schon immer Menschen gegeben, die den Term aufgrund seines eigenen Inhaltes weigerten: die Umwälzung von dem einen Zustand in einen anderen. Einen stürmischen, einmaligen Drehmoment in der Geschichte, der für immer mit der Ausbeutung, Unterdrückung und Gehorsamkeit abrechnet. Danach? Windstille, das Stillstehen der Zeit, das Ende der Geschichte, die Endzeit…Es hat schon immer Menschen gegeben, die dem Aufstand, individuell oder Kollektiv, als ein Moment und ein Bestandteil des Lebens, mehr Vertrauen entgegen gebracht haben. Ein Moment der seinen Stempel aufdrückt und sodann wieder weggewischt wird durch einen neuen Golf. Der Aufstand der viele Formen hat, der mich nicht erneut einrichten will, der sich nicht durch eine Flagge einfangen lässt. Der Aufstand der immer eine Methode bleibt und nie zum Ziel an sich wird; den ich in den kleinsten Ecken meines Lebens eben so gut hantieren kann wie im grossen Weltspektakel.
Durch den Impuls der Revolutionen in Nordafrika, dem Mittleren Osten und in kleinerem Masse auch die grossen Aufstände in Griechenland 2008, Frankreich 2005 und selbst London 2011, verloren all diese inhaltlichen Gründe jedoch ihre Relevanz und mussten wir laut einigen damit beginnen uns für die Revolution warum zu machen. Natürlich erkennen wir uns in der Kraft womit Menschen aufstehen gegen die sie umgebenden Zustände, aber die Erkennung und der mögliche Enthusiasmus der daraus hervorkommt scheint mir an sich sehr ärmlich. Angesichts der Ereignisse in Nordafrika, lag die Wichtigkeit viel eher in einer Untergrabung einer neuen Art des demokratischen Kolonialismus und der Gefahr einer fleckenlosen, durch die Weltgemeinschaft begleitete Transition. Dies zu thematisieren oder zum Beispiel über den Nationalismus zu sprechen, der dem sogenannten arabischen Frühling die ersten Knospen abgeknickt hat, ist jedoch bereits ein Zuviel an Kritik gewesen. Wir mussten vor allem voll mit Lob für die Revolution sein und aus unserem faulen Stuhl des anarchistischen Scharfrichters herunter steigen. Was mich selbst betrifft und meinen Teil angeht, verteidige ich diese Kritiken und Bemerkungen vollkommen und denke, dass sie zurecht Äusserungen eines besorgten Engagement sein können. Ein Besorgnis, angesichts der Entwicklungen die die Kraft des Aufstandes selbst erneut trockenlegen wollten: der Nationalismus der die Individuen (ja, auch die Massa Individuen 🙂 ihrer gerade entdeckten Kraft enteignet, der Demokratismus der uns hier die Möglichkeit einer Erkennung entnimmt usw. Das nie erreichte Ziel des Aufstandes, die freieste Entfaltung eines jeden Individuum hin zu seiner Eigenheit, wird genau durch die Empfindlichkeiten und die Handlungen die daraus hervorkommen beschützt.
Der Tanz ist zu Ende: ein Schritt nach vorne und einer nach hinten oder vielleicht doch auch ein bisschen zur Seite hin, und wer weiss welche Pirouetten uns noch erwarten? Auch während dieses Tanzes bin ich unbezweifelt auf viele Zehen gestanden. Wer sich jedoch auch nur während einem Augenblick zu einem bisschen Erkennung und Zustimmung verführen liess, den treffe ich gerne um ein bisschen informell zu plaudern und, warum auch nicht, für eine Diskussion an der kommenden Buchmesse. Wer das gerne möchte, kann mir im Voraus auch immer ein Mail auf die unten geschriebene Mailadresse schicken.
het.onderste.boven@gmail.com